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Schauspiel Graz: Der letzte Mensch (Alexander Eisenach)

Premiere: 16 Sept 2021, Schauspiel Graz

nach dem Roman von Mary Shelley Deutsch von Irina Philippi

Mary Shelley, Autorin des „Frankenstein“, war mehr als ein One-Hit-Wonder, das im Alter von 18 Jahren das Monster erfand, das ins kulturelle Gedächtnis eingewandert ist. Mary Shelley war eine hochintelligente, höchst modern denkende und unkonventionell lebende Frau. Ihre Lebensgeschichte und ihr Werk – sie gilt als Erfinderin der Science Fiction – lassen das frühe 19. Jahrhundert in ganz anderem Licht erscheinen, als es z.B. die Romane ihrer Zeitgenossinnen wie die Brontë-Schwestern oder George Eliot suggerieren. Und ihr zwischen 1824 und 1826 geschriebener und nach 200 Jahren im Februar 2021 erstmals auf Deutsch erschienener Roman „Der letzte Mensch“ ist ein vernachlässigtes Dokument der Weltliteratur. Hier diskutieren Frauen beim Frühstück mit ihren Männern und Freunden über die politischen Ereignisse der Zeit, sind interessiert an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und bestehen darauf, zu lieben, wen und wie sie wollen und zu denken und zu schreiben, was sie wollen.

Das Leben der Autorin war so aufregend (und dramatisch, ja tragisch) wie ihre literarischen Helden: Aufgewachsen in einer Patchworkfamilie, war sie die Tochter einer radikalen Feministin und eines Anarchisten. Mit 16 türmte sie von zu Hause mit dem romantischen Dichter Percy Shelley (Atheist, Vegetarier und Anhänger der freien Liebe), der trotz viel emotionalen Unglücks ihre große Liebe blieb. Die Reisen des prominenten Paares durch ganz Europa, ihr bohèmeartiges Leben mit wenig Geld und vielen Affären wurden von der Klatschpresse der Zeit interessiert verfolgt – es gab zur Berichterstattung Anlass.

Als Dichterin der Romantik hatte die auch als „queen of goth“ apostrophierte Autorin ein inniges Verhältnis zum Tod. Und dies nicht nur theoretisch oder ästhetisch. Auf der Hälfte ihres Lebens, mit 26 Jahren, stand sie mutterseelenallein, bettelarm und verlassen von allen in Italien. Ihre Mutter war bereits bei ihrer Geburt gestorben, ihr Ehemann im Meer ertrunken, ihre Kinder (bis auf eines) im Kleinkindalter gestorben, ihr bester Freund im Krieg geblieben, ihre Halbschwester durch Suizid aus dem Leben geschieden usw. usf. Was liegt da näher, als einen Roman zu schreiben, der die bodenlose, eigene Einsamkeit thematisiert? Als grausame, aber nicht unempathische Schöpfergöttin löscht Mary Shelley auf 544 Seiten die gesamte Menschheit aus und porträtiert sich selbst in der Rolle des einzigen Überlebenden einer weltumspannenden Seuche, die in der Zukunft stattfindet.

Der Roman mit seinem pandemischen Geschehen spielt in den Jahren 2073 bis 2089. In der Inszenierung sind „Der letzte Mensch“ und das Schicksal von Mary Shelley selber Ausgangspunkt für eine Reflexion über Einsamkeit und Düsternis, Tod und Freiheit, die Mehrwertproduktion und die Unterhaltungsindustrie Stadttheater. Der Theaterabend nimmt seinen Ausgangspunkt aus dem Gedanken, dass die Bühne des Schauspielhaus Graz ein einziges Massengrab ist, aus dem die Untoten allabendlich wiederauferstehen, um sich das Denken einer radikalen Freiheit zu erobern. Er endet an der Grenze unseres Sonnensystems auf der Suche nach einer neuen Heimat, nachdem der Mensch im Anthropozän die Erde hat unbewohnbar werden lassen. All dies in der trotz des düsteren Themas humorvollen, spielfreudigen, diskursmächtigen und bildgewaltigen Inszenierung von Alexander Eisenach, der in Graz auf die Adaption von wortgewaltigen Romanen („Frequenzen“ von Clemens J. Setz, „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, „Vernon Subutex“ von Virginie Despentes) spezialisiert ist und der wieder einmal inszenatorisch alle Register zieht, die das Theater so bietet.

REGIE Alexander Eisenach

BÜHNE Daniel Wollenzin

VIDEO Oliver Rossol

KOSTÜME Claudia Irro

MUSIK Benedikt Brachtel

LICHT Thomas Trummer

DRAMATURGIE Karla Mäder

MIT Lisa Birke Balzer, Henriette Blumenau, Fredrik Jan Hofmann, Florian Köhler, Mathias Lodd, Alexej Lochmann, Raphael Muff, Clemens Maria Riegler

LIVE-KAMERA Timo Neubauer